Der Vater
Eggert Gustavs wurde 1909 im Pfarrhaus auf der Insel Hiddensee geboren. Sein Vater, der „Inselpastor von Hiddensee“ Arnold Gustavs (1875 – 1956) war 45 Jahre hindurch Seelsorger der Inselbewohner. Länger als je ein Pfarrer auf der Insel begleitete er ihr Leben von der Wiege bis zum Grabe. Von 1903 bis 1948 hat er von der Kanzel der kleinen Kirche in Kloster den Hiddenseern das Evangelium gepredigt, hat sie getraut, hat getauft und begraben, die Kinder im Christentum unterwiesen und den Erwachsenen mit Rat und Tat zur Seite gestanden. Immer enger verwuchs er im Verlaufe seiner seelsorgerischen Tätigkeit mit seinen Hiddenseern.
Er liebte seine heimatliche Mundart und sprach auch mit den Hiddenseern nur „platt“. Mitunter hat er sogar plattdeutsch gepredigt. Arnold Gustavs war in vielen Sprachen zu Hause: Latein, Griechisch, Hebräisch, Holländisch, Altisländisch sowie in den slawischen Sprachen – insbesondere Russisch – und Schwedisch. Allgemein wurden seine Predigten geschätzt, weil sie kurz, prägnant und geistvoll waren; sie dauerten kaum länger als zehn Minuten. Die Seelsorge an den Kurgästen ist im Laufe der Jahre zu einem wesentlichen Teil seiner amtlichen Tätigkeit geworden. Dieser Aufgabe entsprang auch seine Gepflogenheit, die Kirche alltags den ganzen Tag offenzuhalten.
Die gastfreundliche und weltoffene Atmosphäre im Pfarrhaus – den Künsten und der Wissenschaft gegenüber gleichermaßen aufgeschlossen – lockte viele in- und ausländische Besucher an. Zeitweise wurden auch zahlende Sommergäste aufgenommen, da das Leben auf der Insel durch die bescheidenen Einkünfte eines Landpfarrers bestimmt war, die auf mannigfache Weise ergänzt werden mussten. Neben der Viehhaltung war der große Pfarrgarten zu bestellen, der eigentlich alles für den Haushalt lieferte, was sich dort nur anbauen ließ. Die Bienenzucht übernahm er von seinem Vater. So willkommen der Gewinn aus der Bienenzucht war, so kostete sie ihn viel Zeit, die er nur ungern von seiner wissenschaftlichen Arbeit opferte; denn Arnold Gustavs war nicht nur der in seiner Gemeinde hochangesehene und geschätzte Pfarrer. Er besaß darüber hinaus einen beachtlichen Ruf als Altorientalist, Archäologe, Heimatforscher und Schriftsteller.
Seine umfangreiche Sammlung von Hiddenseer Steinwerkzeugen, mit der er den Nachweis der vorgeschichtlichen Besiedlung Hiddensees erbrachte, befindet sich heute als „Sammlung Gustavs“ im Heimatmuseum in Kloster. Als Altorientalist war sein Name in Fachkreisen weithin bekannt, denn er ist der Verfasser mehrerer Bücher über Assyriologie und Keilschriftkunde. Seine Leistung als Wissenschaftler wurde 1921 durch die Verleihung des akademischen Grades eines Lizentiaten der Theologie anerkannt. Die Universität Greifswald ehrte ihn mit dieser hohen Auszeichnung. Seine Stärke lag vermutlich in der Gründlichkeit des Arbeitens. Er machte sich den Stoff zum sicheren geistigen Besitz und besaß die Gabe, Zusammenhänge sprachlich in der einfachsten Formulierung darzustellen. Einen außergewöhnlich großen Erfolg bis in die heutige Zeit hatte und hat sein Heimatbuch „Die Insel Hiddensee“ – mit Illustrationen von seinem jüngsten Sohn, dem Maler und Grafiker Eggert Gustavs.
Eine Zeit lang war umstritten, ob sich Arnold Gustavs während all der Jahre politisch festgelegt hat. Er hatte nämlich anfangs um das Jahr 1933 – wie Millionen andere Deutsche auch – darauf gehofft und erwartet, dass die Nationalsozialisten ihre Wahlversprechen in Bezug auf Wohlstand und Frieden einhalten würden, zumal die nationalsozialistische Ideologie in den ersten Jahren eine sehr kirchenfreundliche Position eingenommen hatte. Doch schon bald fand er zu einer bewusst kritischen Haltung, die er 1937 so zusammenfasste: „Nie in meinem Leben sind mir Hoffnungen gründlicher zerstört worden.“ Er blieb den Versammlungen der NSDAP und allen Propagandaveranstaltungen demonstrativ fern und setzte sich im Sinne eines passiven Widerstands mehrmals ostentativ über Erwartungen der Machthaber hinweg. Der Ortsgruppenleiter der Partei zeigte Pfarrer Gustavs bei der Gestapo an und leitete damit eine permanente Beobachtung seiner Person ein. Allein dem Umstand, dass Arnold Gustavs nicht eine Gruppe von Nazigegnern um sich scharte, ist wohl zu verdanken, dass er nicht verhaftet wurde.
Mit Gerhart Hauptmann war Arnold Gustavs über ein Vierteljahrhundert – seit etwa 1920 – freundschaftlich verbunden. Er unterstützte ihn beim Kauf des Sommerhauses „Seedorn“ in Kloster und erwarb sich große Verdienste beim Erhalt des Gebäudes, bis es durch die Gemeinde als Gedenkstätte übernommen wurde. Am 6. Juni 1946 starb Gerhart Hauptmann in Schlesien. Seinem einmal geäußerten Wunsch entsprechend fand die Beisetzung auf Hiddensee statt. Pfarrer Gustavs hielt seinem alten Freund die Trauerrede. Das Buch „Gerhart Hauptmann und Hiddensee – Erinnerungen von Arnold Gustavs“ mit Briefen von Gerhart und Margarete Hauptmann wurde posthum von Gustav Erdmann herausgegeben. Den Hiddenseern bleibt die Erinnerung an einen vielseitig gebildeten und verdienstvollen, bescheidenen und humorvollen Menschen – „einen innerlich fröhlichen Menschen“, wie Hauptmann einmal formulierte. Fragte man die Hiddenseer nach ihrem „alten Pastor“ Arnold Gustavs, so konnte man wohl hören: „Ick mücht em giern.“
Karsten Gustavs